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Prolog
Früher, lange vor der Erfindung des Rades, da wurden die Menschen naß, wenn es regnete. Es gab zwar dicke Felle und Pelze zum Schutz vor der Nässe, aber im Grunde genommen blieben die Menschen bei Regen dann doch lieber zu Hause. Irgendwann kam dann einem findigen Kerlchen etwas in den Sinn: Warum sich nicht etwas über den Kopf halten, was anstatt der Menschen naß wird? Man müßte etwas erfinden, was den Leuten das Problem mit der Nässe endlich vom Hals schafft, einen Gegenstand, der sich an Stelle des Menschen mit dem kalten, feuchten Element Wasser auseinandersetzt. Die Idee des Schirms war geboren...
Heutzutage gehört das Benutzen eines Schirms zum Alltag. Fast in jedem Haushalt ist ein solches Exemplar vorhanden, wobei jedoch der soziale Status eines Schirms nach wie vor als sehr gering zu bezeichnen wäre. Man könnte hier von einer Ausbeutung des Subjekts sprechen, da der Schirm in seiner Eigenart von den meisten Menschen lediglich ‘benutzt’ wird.
Kapitel 1
Zunächst war alles ruhig. Nichts geschah. Rein gar nichts. Dieses schien aber nur die Einleitung für ein dumpfes Rumpeln darzustellen, dem ein ohrenbetäubendes Quietschen folgte, ähnlich den Geräuschen, die man beim Mikadospielen mit Stahlträgern erzeugen würde. Nach dieser Zerreißprobe für das Trommelfell blubberte es, als puste jemand mit einem Strohhalm in einen Milchshake - nur viel lauter. Daraufhin krachte es genau so, als wenn man ein Holländerfahrrad aus dem 1. Stock auf die Straße werfen würde. Und dann...Stille.
„Diese Scheißkiste!“ Gerhard Voß war Taxifahrer und somit eigentlich weit mehr Problemen gewachsen, als sie ein defekter Kaffeeautomat mit sich bringen konnte.Er trat mit voller Wucht dagegen, daß die Geldrückgabeklappe nur so schepperte. Der Automat ächzte laut und füllte die Tasse, die in der dafür vorgesehenen Einbuchtung stand, mit einer dicken, schwarzen Pampe - allerdings nur zwei Finger breit. „Na, immerhin etwas“ murmelte Voß und führte die Tasse todesmutig zum Mund. In diesem Augenblick erklang knarzend eine Stimme aus der Gegensprechanlage: „Gerhard, bist du schon da?“ Der Kaffee war wie eine Backpfeife. Voß drückte auf einen roten Knopf an der Wand und antwortete: „Ja, soeben angekommen.“ Daraufhin beförderte er den Inhalt der Tasse an den Stamm der Yucca-Palme, die seit Jahren mit gelben, angefressenen Blättern unausrottbar am Fenster der Taxizentrale vor sich hin vegetierte. „Du hast bereits den ersten Auftrag“ knirschte die Stimme aus der Sprechanlage. „Luisenweg 17, Hartmann Immobilien. Du brauchst nur auf den Hof zu fahren, der kommt dann `raus.“ „Ja, danke.“ Voß stellte die Tasse auf den Tisch und verließ den Aufenthaltsraum.
Luisenweg. Da muß man nur über die Ausfallstraße ins Industriegebiet und dann rechts. Gerhart Voß brauchte etwa vier Minuten, dann stand er auf dem Hof von Hartmann Immobilien und wartete. Oben am Fenster, im zweiten Stock, wurden die Gardinen ein klein wenig zur Seite geschoben und für Sekunden wurde eine rötliche Dauerwelle sichtbar. Man hatte ihn also bemerkt. Voß lehnte sich im Autositz zurück und seufzte. So saß er mehrere Minuten und starrte vor sich hin. Endlich, er wollte gerade losgehen und doch klingeln, öffnete sich die Eingangstür und ein geschniegelter Mann mit Anzug, Mantel und Stockschirm kam die Treppe herunter.Sein Blick war auf das Taxi gerichtet, wobei ein professionell aufgeklebtes ‘Sympathiegewinnungslächeln’ seinen Mund umspielte: leicht arrogant, aber zudem von einer herablassenden Milde.
‘Eine Autoritätsperson,’ dachte Gerhard Voß instinktiv ‘wahrscheinlich in höherer Position tätig.’ Das mußte Hartmann sein. Voß, der sein Verhalten gegenüber Autoritäten bereits seit frühester Kindheit weiter und weiter perfektioniert hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen aus dem Wagen, umkreiste diesen und öffnete untergeben die Beifahrertür. Selbige in der Hand, erwartete er seinen Kunden und lächelte ihm entgegen. Der vermeintliche Hartmann hatte mit unveränderten Gesichtszügen bereits die Hälfte des Hofes überquert. Fast euphorisch schwang er den Stockschirm, um ihn in regelmäßigen Abständen auf das Pflaster zu donnern. Mit einem Mal verzerrte sich sein Lächeln, als ob ihn irgend etwas erschrecken würde, und genauso plötzlich begann er damit, sich in regelmäßigen Abständen mit dem Schirm vor die Knie zu schlagen. Der Mann stolperte immer weiter nach links und strauchelte mit panischem Blick an dem Taxi vorbei. „Hallo? Kann ich ihnen helfen?“ Gerhard Voß wußte nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. „Haben Sie ein Taxi bestellt?“ Verwundert kratzte er sich am Kopf, während der Mann sich mit dem Schirm vom Hof prügelte. Voß zuckte mit den Achseln. ‘War vielleicht doch nicht Hartmann’, dachte er und setzte sich wieder in den Wagen. Erst später, als er dann doch klingelte, erklärte ihm die Sekretärin, daß ihr Chef bereits vor 10 Minuten gegangen sei. Voß beschloß daraufhin auf dem Weg zurück zum Taxi, daß „Herr Hartmann“ nicht nur ein begnadeter Schauspieler, sondern auch ein ziemliches Arschloch sei. Man kann einem ja auch in anderer Form klarmachen, daß kein Taxi mehr benötigt wird.
Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis Gerhard Voß den Vorfall weitestgehend verdrängt und vergessen hatte. Das hätte er wahrscheinlich nicht getan, wenn er gewußt hätte, wie knapp er an diesem Vormittag einer großen Gefahr entronnen war. Aber nichtsdestotrotz war es nicht das letzte Mal, daß Gerhard Voß mit dem Schirm konfrontiert wurde.
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