|
Die Geschichte
Ein Mann saß vor seinem Computer. Eine Geschichte wollte er schreiben. So eine spannende vielleicht, oder eine, die sich ganz langsam und behutsam aufbaut, dann zunehmend steigert, um nach hinten hin mit einer Dramatik daherzukommen, dass die Leser gierig die Buchstaben aufsaugen wie der Dürstende das Wasser, wie der Vampir das Blut. Plötzlich und unerwartet dann der Schluss: die Handlung, eh schon leicht verworren, würde mittels einiger scharf formulierter Sätze ins Gegenteil gekehrt, was den Lesern Denkanstöße für Jahre mit auf den Weg geben würde. So dachte sich der Mann. Und weil er es sich so dachte, rief der Mann all seine Bekannten an und erzählte es ihnen. „Meine neue Geschichte“, so sagte er, „das wird etwas ganz Genaues.“ Doch irgendwann fiel ihm niemand mehr ein, den er anrufen konnte und er setzte sich ans Fenster. ‚Jetzt brauche ich nur noch ein Thema, dann kann es eigentlich losgehen‘, dachte er sich. ‚Irgendwo dort draußen, auf der anderen Seite dieses Fensters, muss es sich befinden. Vielleicht liegt es auch irgendwo herum, man hört schließlich so oft, dass die Themen nur so auf der Straße liegen.‘ Er zog sich seine Schuhe an und schaute nach. Aber dort war nichts. Ein paar Autos fuhren die Straße hinab, ein Stück entfernt spielten ein paar Kinder auf dem Gehweg. Nichts worüber man schreiben könnte. Der Mann ging noch ein paar Schritte auf und ab, aber da nichts passierte, kehrte er zurück in seine Wohnung. Auf der Straße lag das Thema also nicht. Vielleicht würde es doch nicht so leicht werden. Ihm fiel schließlich doch noch jemand ein, den er anrufen könnte – einen alten Schulfreund. „Meine neue Geschichte“, so sagte er, „das wird etwas ganz Genaues. Schon allein deshalb, weil sie kein Thema behandeln wird, das einfach so auf der Straße herumliegt.“ Wenig später saß der Mann wieder am Fenster. ‚Irgendeine Handlung muss her‘, dachte er sich. ‚Ohne Handlung ist eine Geschichte gar nichts. Aber warum finde ich nichts, was wie eine Handlung aussieht? Vielleicht kann ich ja die Handlung deshalb nicht sehen, weil sie sich im Verborgenen abspielt.’ Der Mann wusste natürlich nicht genau, wo das Verborgene zu suchen sei und deshalb schaute er zunächst im Keller nach, in der letzten Ecke, in der er sonst nie nachschaute. Doch hier verbarg sich nichts. Auch auf dem Dachboden, den er seit Jahren nicht mehr betreten hatte, ließ sich nichts Verborgenes finden. Nur Staub war dort, nichts worüber man schreiben könnte. Auf dem Rückweg in die Wohnung traf er seinen Untermieter. „Meine neue Geschichte“, so sagte der Mann, „das wird etwas ganz Genaues. Nichts einfach so von der Straße, aber brandaktuell, ich hole mir doch keine verstaubten Themen aus dem Verborgenen.“ Wenig später saß der Mann wieder vor dem Fenster. ‚Es muss etwas geschehen‘, dachte er sich. ‚Etwas, das spektakulär genug ist, dass man darüber schreiben kann.‘ Aber was konnte er da tun? Der Mann schaute sich im Zimmer um, holte nach kurzem Zögern eine Vase aus dem Schrank und warf sie mit Wucht an die Wand, dass die Scherben quer durch das Zimmer flogen. Dann setzte sich der Mann vor den Computer und schrieb auf, wie ein Mann nach kurzem Zögern eine Vase aus dem Schrank nimmt und sie mit Wucht an die Wand wirft, dass die Scherben quer durch das Zimmer fliegen. Dann schrieb der Mann auf, wie ein Mann aufschreibt, wie ein Mann nach kurzem Zögern eine Vase aus dem Schrank nimmt und sie mit Wucht an die Wand wirft, dass die Scherben quer durch das Zimmer fliegen. Wunderbar, wie das alles klappte. Der Mann freute sich und schrieb sogleich auf, wie sich ein Mann freut und wie ein Mann darüber schreibt, dass sich ein Mann freut. Nachdem er sich noch schnell ein Butterbrot geschmiert hatte, um dann aufzuschreiben, wie sich ein Mann noch schnell ein Butterbrot schmiert und ein Mann darüber schreibt, wie sich ein Mann noch schnell ein Butterbrot schmiert, dachte er sich: ‚Was für eine effiziente Schreibtechnik. Jetzt kommt es nur noch darauf an, etwas zu tun, worauf sich eine spannende Geschichte aufbauen lässt. Der Rest ergibt sich von selbst.’ Mit diesem Gedanken öffnete er fröhlich das Fenster und sprang.
|