Dirk Bußmann
Die einheitliche Größe der Bittsteller

(erschienen 2005)
Kurzgeschichten, die zum Nachdenken anregen.
(ISBN 3-934992-08-0)

Preis: 7,95 €


Wo ist Olf?

Vor einiger Zeit lernte ich auf einer Party jemanden kennen, der hieß Olf. Allein dieser ungewöhnliche Name hatte dazu geführt, dass ich mich näher mit ihm beschäftigte, und siehe da, auch sein Nachname war alles andere als gewöhnlich: von Krottendorff. „Oh, ein Blaublütiger“, hatte ich damals gewitzelt. Aber davon ab: Wir verstanden uns sehr gut, sprachen über Literatur und Musik und insbesondere von Tom Waits, von dem Olf einige besonders seltene Aufnahmen zu haben schien. Wir tauschten zur Verabschiedung unsere Telefonnummern aus. Fein säuberlich hatte er seine auf einen Bierdeckel geschrieben, welchen ich zu Hause in die Adressenkiste legte, direkt zwischen die anderen auf Servietten, Zigarettenschachteln und alten Kassenzetteln notierten Telefonnummern.

Nun begab es sich, dass ich einer alten Freundin unvorsichtiger-weise versprach, ihr seltene Aufnahmen von Tom Waits zu besorgen, denn ich hätte da neulich jemanden kennengelernt, von dem ich mir gewiss so einiges ausleihen könne. Also suchte ich den Bierdeckel wieder aus der Adressenkiste und wählte ordnungsgemäß die angegebene Nummer, womit mein Problem begann. Am anderen Ende meldete sich eine weibliche Stimme mit dem Namen Richter. Dies will ja in Zeiten von Wohngemeinschaften noch nicht heißen, dass man falsch verbunden ist, also fragte ich frisch darauf los, ob ich mal eben mit Olf von Krottendorff sprechen könne. „Mit wem?“ „Mit Olf von Krottendorff“, erwiderte ich, schon leicht verunsichert.  „Soll das ein Scherz sein?“, fragte die Frauenstimme. „Neinnein“, antwortete ich und erklärte, dass ich den wirklich sprechen wolle. „So jemanden gibt es hier nicht“, meinte die Frauenstimme energisch. „Da müssen sie sich verwählt haben.“ Natürlich entschuldigte ich mich sogleich, verabschiedete mich kurz und legte auf, um nochmals und diesmal besonders sorgfältig, Zahl für Zahl, die Telefonnummer von Olf zu wählen. „Richter“, meldete sich wiederum die mir bereits bekannte Frauenstimme. „Oh“, meinte ich, „habe ich schon wieder Sie am Apparat? Das tut mir leid.“ „Welche Nummer haben Sie denn gewählt?“, fragte die Frauenstimme wesentlich gereizter als beim ersten Telefonat. „Die 9698737.“ „Hier ist aber die 4342015“, erwiderte Frau Richter schon fast patzig. Komisch. Bei sieben zu wählenden Zahlen und solchen Wurstfingern, wie ich sie habe, kann es durchaus passieren, dass man beim falschen Gesprächspartner landet. Aber alle sieben Zahlen verkehrt? Ich konnte mich spontan an keinen Anruf erinnern, bei dem ich jemals eine derart schlechte Trefferquote hatte. Doch Frau Richter konnte mich beruhigen, denn sie versicherte mir, daß ihre Familie ständig von Leuten angerufen werde, die nicht nur jemand völlig anderes sprechen wollten, sondern auch noch völlig andere Telefonnummern gewählt hätten. Sie hätte sich auch schon öfters beschwert bei der Telekom, doch dort fühle sich niemand wirklich zuständig für dieses Problem. Ich solle doch vorzugsweise mal über Handy versuchen, meinen gewünschten Gesprächspartner zu erreichen. Durch ihre langjährige Erfahrung mit Leuten, die sich verwählt haben, könne sie sagen, dass dies schon oft geholfen hätte. Ich bedankte mich höflich für diesen konstruktiven Vorschlag, verabschiedete mich abermals und legte auf. ‚Das Festnetz ist auch nicht mehr das, was es einmal war‘, dachte ich mir noch und griff zum Handy. Mit übergroßer Sorgfalt gab ich die Nummer ein, verglich jede einzelne Zahl auf dem Bierdeckel nochmals mit den eingegebenen auf dem Display. Dann tippte ich auf „anrufen“ und wartete. „Rolfes“, meldete sich eine tiefe Männerstimme. Aha. Zwar noch nicht der richtige Name, aber immerhin ein anderer. Ich erklärte, wen ich zu sprechen wünschte, wurde jedoch von dem Mann am anderen Ende der Leitung ausgebremst: „Haben Sie hier gerade schon mal angerufen?“ „Äh, ich glaube nicht“, vermutete ich erstmal. „Gerade eben sprach ich mit einer Frau Richter.“ „Ja, das war meine Frau“, meinte Herr Rolfes. Blöde Unsitte hier im Land, auch nach der Heirat die Geburtsnamen beizubehalten. Ich entschuldigte mich abermals, wünschte noch schöne Grüße an die Frau Gemahlin und verabschiedete mich. Dann habe ich fast zehn Minuten mit einer Dame von der Telefonauskunft gesprochen, die herausfand, das es in ganz Norddeutschland nur einen „von Krottendorff“ mit Doppel-F gab, und der hieß mit Vornamen Erwin und wohnte in der Nähe von Schleswig. Auch die Suchmaschinen im Internet hatten noch nichts von meinem Bekannten gehört, eine forderte mich sogar auf, anstatt Olf Ulf einzugeben. So kam ich also nicht weiter. Ich beschloß, die Telefonrecherche auf den folgenden Tag zu verschieben.

Über die Bemühungen der nächsten Wochen konnte ich herausfinden, das die Familie „Rolfes/Richter“ aus insgesamt vier Personen bestand: Neben Sabine und Andreas, den Eltern, gab es da nämlich noch die beiden schulpflichtigen Kinder Manuel und Carola, wahrscheinlich 7 und 12 Jahre alt. Dazu kam noch „Struppel“, ein vierjähriger Berner-Sennenhund mit einem Hüftschaden, welcher mit ziemlicher Sicherheit auf einen Geburtsfehler zurückzuführen sein dürfte. Vielleicht lag es auch daran, dass er als Welpe zu früh Treppen gestiegen sei, so vermutete man. Während Sabine Richter nach ihrer zweiten Schwangerschaft schon so manche Diät erfolglos ausprobiert hatte, befand ihr Mann, dass sie trotz der paar Kilo zuviel immer noch blendend aussähe. Nur ihr Hang zu Fußpilzerkrankungen werde insbesondere von den Kindern mit Missfallen aufgenommen, verhindere er doch bereits seit zwei Jahren gemeinsame Schwimmbadbesuche.
Eine wirklich nette Familie.

Übrigens: Meiner Bekannten habe ich dann doch lieber eine Zusammenstellung seltener Aufnahmen von David Bowie zukommen lassen. Das ergab sich gerade so, weil Andreas Rolfes, ein alter Bowie-Fan, noch unzählige Schätzchen in seinem Plattenschrank stehen  hatte. Und Andreas erreiche ich ja immer. Ich brauche nur Olfs Nummer zu wählen...